⊗ r. anderscheinungen ⊗ mein denkraum.
Montag, 12. April 2004
mira
es war eine kalte, verregnete novembernacht und ich streifte auf dem kiez umher, wie ich es fast jede nacht tat. ich war auf der suche, doch wusste ich nicht, wonach. während ich die hauptstraße hinunterging, überkam mich der altbekannte hass auf all das um mich herum. der hass auf die immer gleich aussehenden nutten, der hass auf die schmierigen freier, die schmuddeligen läden. ein hass, der mir so vertraut war, dass ich ihn schon fast liebgewonnen hatte.
die leichten mädchen am straßenrand warfen mir auffordernde blicke zu, doch sie widerten mich geradezu an. sie waren so gewohnt, dass ich mich vor ekel schüttelte. ich hasste diese stadt mit leidenschaft, vielleicht war das der grund, aus dem ich nicht weggezogen bin. vielleicht war es aber auch die gewissheit, dass mir keine andere stadt der welt das bieten konnte, was ich suchte: den ultimativen kick, das absolute abenteuer. etwas neues, etwas, das mich nicht langweilte.
hier gab es nichts wirklich aufregendes. keine der nutten hielt, was sie versprach, keine der drogen konnte mir die realität genug verklären, um sie erträglich zu machen. nichts, aber auch gar nichts interessierte mich.
so lief ich nachts ziellos umher und wartete auf etwas, auf irgendetwas. es begann zu regnen und ich kehrte in eine der dreckigen spelunken ein, gab mein letztes geld für ein paar schlecht gezapfte biere aus. die menschen - konnte man sie noch so nennen ? - ekelten mich an. ihre sabbernden und vom alkohol verquollenen gesichter, diese unerträglichen fratzen...sie stanken nach schweiß und billigem fusel, ich verachtete diese kreaturen. sie glaubten, ihr glück im suff und mit billigen ficks gefunden zu haben. sie waren so selbstzufrieden.
vor einigen jahren war ich in diese stadt gekommen, mit der hoffnung, hier zu finden, was ich suchte. doch nichts war anders. die kneipen waren genau so dreckig, wie überall auf der welt, die neonreklamen versprachen und enttäuschten auf die gleiche weise...ja, sogar die nutten trugen das gleiche make-up. so war ich hier in hoffnungslosigkeit versackt, unmotiviert mein glück woanders zu suchen.
ich verließ den laden und wanderte weiter durch den regen, egal, wohin. ein wagen hielt in einer seitenstraße, eine frau wurde hinausgestoßen, der wagen fuhr weiter. nichts ungewöhnliches, hatte ich solche szenen doch schon tausendfach gesehen und war tausendfach tatenlos weitergegangen. warum ich gerade jetzt hinüberschlenderte, weiß ich nicht. doch ich tat es, einfach so. die frau lag in einer pfütze, blutete aus der nase, das erkannte ich im halbdunkel. ich packte sie am arm und zog sie hoch. es war unschwer zu erkennen, welchem gewerbe sie angehörte.
sie war jünger, als die anderen frauen. ein halbes kind. sie musste neu in dieser gegend sein, denn ich hatte sie in all den jahren noch nie hier gesehen.
ihr schulterlanges haar war tiefschwarz und ihre augen von faszinierender tiefe. ich schob sie gegen die wand, damit sie sich abstützen konnte. "wie heißt du, kleine ?" fragte ich sie. sie stieß mich zur seite, lief in richtung hauptstraße, blieb kurz stehen und flüsterte mit gebrochener stimme: "mira." dann verschwand sie in der nacht und dem menschentreiben.
"mira", dachte ich. ihre augen verfolgten mich, als ich nach hause ging. und ich war mir sicher, dass sie das chaos sahen, als ich meine wohnung betrat. das dreckige geschirr der letzten 3 wochen stapelte sich in der spüle, ein haufen klamotten ließ irgendwo ein bett vermuten und auf dem tisch drängten sich halbvolle konservenbüchsen. ich war nur zum schlafen hier und das tat ich vorwiegend tagsüber. nachts trieb es mich hinaus auf die straße...
ich sah auf die uhr. es war fast 3. mira. der gedanke ging mir nicht aus dem kopf. von plötzlicher hektik befallen kramte ich in einer schublade herum, fand schließlich einige scheine - das war alles, was man mir in der pfandleihe für meinen fernseher gegeben hatte. doch wozu brauchte ich ihn auch ? alles, was gesendet wurde, langweilte mich. mira.
mit dem geld in der hand stürzte ich wieder hinaus auf die straße, rannte das kurze stück bis zum kiez und taumelte wie benommen in das nächstbeste bordell. die empfangsdame schaute etwas verwirrt. "was kann ich für sie tun ?", fragte sie schließlich. ich blickte sie nur verstört an, ließ meinen blick durch den raum streifen und schwankte etwas umher. ich merkte nur noch, wie ich an den armen gepackt und richtung tür gerissen wurde. die türsteher... "mira...", stammelte ich und sah hilfesuchend zur empfangsdame rüber. sie lächelte milde und bedeutete ihren bodyguards, mich loszulassen. "ja, von der habe ich gehört," sagte sie dann und schüttelte den kopf. "es tut mir leid, so junges gemüse haben wir hier nicht. dies ist ein anständiges geschäft. versuchen sie es doch im 'red heaven'."
vor dem 'red heaven', einem kleinen bordell in einer seitengasse befiel mich ein seltsames gefühl. was tat ich hier eigentlich ? ohne mir diese frage zu beantworten, klopfte ich an die morsche tür. eine alte frau öffnete einen spalt breit. "sie wünschen ?". ich starrte sie fiebrig an. dann fing ich mich. "ich suche ein mädchen...". sie lächelte, öffnete die tür und zog mich hinein. ich ließ mich auf ein antikes plüschsofa fallen und die alte kramte ein fotoalbum hinter ihrem tresen hervor. "sehen sie das doch mal durch, welche ihnen gefällt." ich strich mir die haare aus dem gesicht und blätterte das vergilbte album auf. nur flüchtig schaute ich mir die bilder an, schüttelte dann den kopf und gab es ihr zurück. in diesem moment glaubte ich, etwas wie enttäuschung in ihren augen lesen zu können. ein letzter versuch also. "ich suche ein bestimmtes mädchen. sie heißt mira und man hat mir gesagt, ich würde sie hier finden." die miene der alten erhellte sich. zahnkarg lächelte sie mich an. "ja, wir haben eine mira, sie ist ganz neu hier... es tut mir leid, ich muss noch ein foto einkleben...". sie klang erleichtert und entschuldigend. "wo ist sie ?", wollte ich wissen und sie erhob sich, erklomm humpelnd die treppe, von deren ende rotes licht herunterschien. als sie wieder auftauchte, hatte sie ein junges mädchen bei sich. sie war es. mira.
eilig ließ ich das geld aufs sofa fallen und sprang auf. die augen der alten frau leuchteten, als sie feststellte: "sie ist also die, die sie suchen ? mira, zeig dem herrn dein zimmer!". ich stieg die treppe zu mira hinauf und folgte ihr in das karg eingerichtete zimmer. Ein schrank, ein tisch, ein stuhl und ein bett. das war alles.
mira setzte sich auf die bettkante und wirkte ängstlich, als sie ihre bluse aufzuknöpfen begann. ich kniete mich vor sie und sah sie eindringlich an. "nein, das nicht." sie schien von meinen worten aufgeschreckt. "mira! ich will etwas anderes. bitte, verrate mir dein geheimnis. ich will es wissen!". sie stand auf und strahlte plötzlich eine erhabene überlegenheit aus, als sie sagte:" mein geheimnis ? den preis wirst du nicht zahlen wollen! viele haben ihn schon zahlen müssen, kein einziger freiwillig.". mit flehendem blick flüsterte ich:" es ist egal, was es kostet. ich weiß, dass es hier nicht um geld geht...".
mira wirkte nachdenklich. "du faszinierst mich. du weißt mehr, als der rest. diese kläglichen gestalten...es ist nicht schade um sie. ich werde dir mein geheimnis verraten, wenn dies der grund ist, warum du mich gesucht hast.". mit einer schnellen, aber kontrollierten bewegung schleuderte sie mich aufs bett, riss mir das t-shirt vom leib und ich spürte nur noch einen kurzen stich am hals.
als ich wieder zu mir kam, lag ich in meiner wohnung, die tür zum treppenhaus stand halb offen, um mich das gewohnte chaos. die uhr behauptete, es sei 22.30 uhr, doch sie konnte auch lügen. ich rappelte mich auf und lief auf die strasse. es goss in strömen und ich fror, doch es war mir egal. "mira!", schrie ich. der schrei verhallte ohne antwort. ich rannte zum kiez, ich musste sie finden...doch das 'red heaven' hatte geschlossen. wegen todesfall, so das schild an der tür. die alte frau war in der letzten nacht gestorben, wie mir ein vorbeieilender mann zurief. so irrte ich ziellos durch den regen und wusste plötzlich, was ich suchte. mira. ein ungewohntes gefühl. erschöpft machte ich irgendwann auf einem hinterhof halt, starrte zu boden und als ich wieder aufblickte, schaute ich in diese tiefen augen, die mich in der letzten nacht bis nach hause verfolgt hatten. "mira...", stammelte ich. "hast du gefunden, was du so lange gesucht hast ?", fragte sie lächelnd. ich nickte und einen augenblick später war sie schon wieder verschwunden.
es war nicht der ultimative kick gewesen, nicht das absolute abenteuer. doch sie hatte mich von der rastlosigkeit erlöst, die ich jahrelang in mir herumgetragen hatte. sie hatte mir eine innere ruhe gegeben, mit der ich leben konnte...ich wusste nun, wonach ich suchte und es war beruhigend zu wissen, dass es tatsächlich ein ziel gab, das ich verfolgte. trotzdem weiß ich nicht, ob ich sie wirklich finden will. ich bin glücklich auf meiner suche, zum ersten mal seit vielen jahren glücklich, seit den vielen jahren der suche.......

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Verwirrend
und faszinierend zugleich.

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